S. Zala et al. (Hg.): Diplomatische Dokumente der Schweiz 1990

Titel
Diplomatische Dokumente der Schweiz 1990.


Herausgeber
Zala, Sacha; u.a.
Erschienen
Bern 2021: Diplomatische Dokumente der Schweiz (DDS)
Anzahl Seiten
284 S.
von
Jakob Tanner, FSW/ Historisches Seminar, Universität Zürich

Die «Diplomatischen Dokumente der Schweiz» (bekannt unter dem französischen Kürzel Dodis) wurden vor einem halben Jahrhundert lanciert. Seit 1979 publiziert und kommentiert die der Schweizerischen Akademie der Sozial- und Geisteswissenschaften (SAGW) angegliederte Forschungsstelle in zwei Serien 27 Bände mit ausgewählten Quellen zu den internationalen Beziehungen des schweizerischen Bundesstaates. Mit dem Band «1990» wird nun die dritte Serie eröffnet, welche die Jahre bis 1999 abdecken soll. Die neue Serie versteht sich als «ein Beitrag zur Grundlagenforschung der Zeitgeschichte der Schweiz» (S. XIII) und folgt internationalen Editionsstandards. Mit der bereits bewährten «dualen Publikationsform» (S. XV) wird ein synergetisches Ergänzungsverhältnis zwischen Druckerzeugnis (mit 62 chronologisch angeordneten Dokumenten) und Datenbank (mit 1’500 Dokumenten pro Jahr) realisiert.

Die Einleitung, für die Thomas Bürgisser und Sacha Zala zeichnen (S. XXIX–XLI), skizziert das Jahr 1990 als Umbruchmoment der globalen ebenso wie der schweizerischen Politik. Die Veränderungsdynamik setzt bereits am 9. November 1989 abrupt mit dem Mauerfall in Berlin ein und führt mit der Selbstauflösung der Sowjetunion Ende Dezember 1991 in die Zeit nach dem Kalten Krieg hinein. Auf den 3. Oktober 1990 fällt die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Am 19. November 1990 setzt der «Vertrag über die Konventionellen Streitkräfte in Europa» der militärischen Blockkonfrontation ein Ende. Zwei Tage darauf verkündet die «Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» (KSZE) eine Ära konstruktiver Kooperation auf dem bisher gespaltenen Kontinent – das Titelbild zeigt den Bundespräsidenten Arnold Koller bei der Unterzeichnung dieses Dokuments.

Der abrupte Wandel der politischen Grosskonstellation schärft in der Schweiz das Bewusstsein für grenzüberschreitende Interdependenzen. Die mit zahlreichen Anmerkungen versehenen Quellendokumente machen durchwegs enge Rückkoppelungen zwischen Innen- und Aussenpolitik nachvollziehbar. Die Kehrseite der Erfahrung einer vernetzten Welt ist ein Plausibilitätsverlust der Alleingang-Strategie des neutralen Landes, das als solches dennoch Teil des Westblocks war. Ein Normalisierungs-Diskurs unterstützt neue aussenpolitische Reaktionsmuster.

Dadurch wandelt sich die Wahrnehmung eigener Landesinteressen. Ende Oktober 1990 stellte das politische Sekretariat des EDA fest, mit der inzwischen vollzogenen «Einheit Deutschlands in Freiheit» sei «an unserer nördlichen Grenze ein Gesamtdeutschland» entstanden, «das den gleichen demokratischen liberalen Werten verpflichtet ist wie unser Land». Die Schweiz könne damit rechnen, dass das deutsche Nachbarland «auch künftig an der Überwindung des Nationalstaates arbeiten wird und dass die Preisgabe nationaler Souveränität an supranationale Institutionen [sprich EG] fortschreitet» (S. 183). In der Überwindung der deutschen Teilung wird so von Schweizer Seite «die Wiederherstellung der Normalität» gesehen, was «die Begeisterungsstürme […] in Grenzen » halte und durchaus gespaltene Gefühle auslöse (S. 184).

1990 geraten tradierte Rollenbilder der helvetischen Aussenpolitik generell unter Druck. Jüngere Diplomaten nutzen diese Chance und fordern das Establishment heraus. So diagnostiziert im Juni 1990 der damals 33-jährige, bei der Sektion Völkerrecht des EDA arbeitende Thomas Borer in einem unter Verschluss gehaltenen Thesenpapier einen «verminderten Stellenwert der Neutralität» und begründet dies mit dem «hohen Grad an Ungewissheit» in dieser Übergangsphase. Aufgrund der «zunehmenden wirtschaftlichen Abhängigkeit von der EG» würde der schweizerische Spielraum für staatliche Selbstbestimmung «täglich kleiner». Neutralitätspolitik habe «instrumentellen Charakter», sie könne «flexibel an neue Notwendigkeiten angepasst werden», weswegen ihre Vereinbarkeit mit einem EG-Beitritt «letztlich ein politisches Problem» sei (S. 111–113).

Der Bundesrat ist 1990 nicht nur daran, die Schweiz in Europa neu zu positionieren, sondern entwickelt auch neuen umweltpolitischen Elan. Im November 1990 hält Bundespräsident Koller eine vom Geist des Aufbruchs getragene Eröffnungsrede am UN-Klimagipfel in Genf. Er stellt fest, die Einwirkung menschlicher Aktivitäten auf den Planeten Erde hätte ein präzedenzloses Ausmass erreicht und die bisherige Ressourcenverschwendung und Umweltdegradation müsse mit Blick auf künftige Generationen ein Ende haben. Er fordert keine technologisch enggeführten, sondern umfassende Lösungen, welche die Bekämpfung der globalen Armut miteinschliessen. Obwohl die Wissenschaft noch längst nicht alles wisse, sei der Wissensstand ausreichend, um entschlossene Massnahmen zu treffen. Für die Schweiz werde abgeklärt, wie eine Reduktion der CO2-Emissionen um 50 Prozent bis 2025 erreicht werden könne.

Mit dieser Hinwendung zu globalen Problemen verblasst auch das lange gepflegte Feindbild des Antikommunismus. So verweist eine kurze Aktennotiz «Datensammlungen der Bundesverwaltung» vom Februar 1990 auf den «Fund» des 1937 eröffneten, umfangreichen Dossiers «Partei der Arbeit», in dem alle Auslandkontakte von Kommunisten minutiös verzeichnet sind – bis zum Letzteintrag vom 16. Januar 1990. Binnen kurzem hat diese Überwachung ihre vormals eminent wichtige innenpolitische Funktion verloren. Nun wurde befürchtet, das «Bekanntwerden dieses Dossiers» könne, so der Vorsteher des EDA, auf «unangenehme Art interpretiert werden» (S. 50).

Insgesamt dokumentiert der Band eine Schweiz, die ihre staatlichen Bestandesvoraussetzungen auf eine interessante Weise befragt und die Risiken, die mit einer Neuausrichtung ihrer Aussenbeziehungen verbunden sind, stärker als bisher zu akzeptieren bereit ist. Die Sonderfall-Rolle des «chevalier seul» (S. 37) soll durch das Erproben neuer Modelle einer kooperativen und geteilten Souveränität jenseits der Denkschablonen des Kalten Krieges überwunden werden.

Im Umbruchjahr 1990 werden auch seit längerem laufende Entwicklungen offener als bisher thematisiert. So etwa die hintergründige Schwerpunktverlagerung im politischen Machtgefüge. Im Februar 1990 kritisiert SP-Nationalrat Hans Zbinden in der Wirtschaftskommission der grossen Kammer, dass hierzulande keine europapolitische Diskussion stattfinde und dass das Parlament angesichts der Dominanz von Regierung und Administration in eine reaktive Rolle gedrängt werde. Er prangerte die korporatistische «Undurchsichtigkeit» (S. 42) der schweizerischen Politik an, welche die Einflüsse von Verbänden privilegiert und «die öffentlichen Interessen nicht mehr adäquat ab[bildet]» (S. 42). Das Schicksal des institutionellen Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU macht deutlich, dass diese Problematik auch mehr als dreissig Jahre später noch virulent ist. Andere Quellen, die im Band abgedruckt sind, zeugen hingegen davon, wie avanciert viele Vorschläge, die im «Wechselbad» (so Bundesrat Otto Stich, S. 38) des Jahres 1990 zur Diskussion gestellt wurden, waren. Im Rückblick manifestiert sich dies etwa im Umweltbereich und bei der Europapolitik. Während der 1990er Jahre findet hier ein signifikanter Policy-Backlash statt.

Wird der Blick auf das ganze Spektrum von aussenpolitisch relevanten Policy-Bereichen ausgeweitet, so zeigen sich in der Druckausgabe des Quellenbandes unschwer viele Lücken im Panorama, etwa bei der Positionierung des Finanzplatzes oder den Aktivitäten multinationaler Konzerne. Nichtsdestotrotz ist die Lektüre des Bandes geeignet, institutionell verfestigte Vorstellungen staatlichen Handelns zu verflüssigen und die Vielfalt sowie Widersprüchlichkeit der involvierten Akteure kenntlich zu machen. Auch wenn die Schweiz in ihren Aussenbeziehungen starken Zwängen und Abhängigkeiten unterworfen ist, öffnet sich hier doch ein politischer Gestaltungsraum, der am Ende des Kalten Krieges prospektiv genutzt wird.

Angesichts der Überfülle an amtlichen Materialien ist die radikale Reduktion auf 62 Einzelstücke gewagt. Dank der weit breiteren Datenbank, die ein Suchen in unterschiedliche Richtungen ermöglicht, bleiben die Leserinnen und Leser allerdings nicht an den Vorentscheidungen des Forschungsteams hängen. Gleichzeitig ermöglicht ihnen eine professionell gehandhabte «informierte Willkür» eine rasche erste Orientierung, die sich für produktive Fragestellungen nutzen lässt. Und darauf ist eine Zeitgeschichte, die auf der Höhe der Gegenwartsprobleme geschrieben wird, zuallererst angewiesen.

Zitierweise:
Tanner, Jakob: Rezension zu: Zala, Sacha et al. (Hg.), Diplomatische Dokumente der Schweiz 1990, Bern 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 332-334. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.

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